Im Zweifel für den Zweifel

Warum zweifeln nicht nur erlaubt, sondern glaubens- und lebensnotwendig ist

Wer zweifelt, hat es nicht leicht, viel zu schnell ist man als Zögerer und Zauderer verschrien. In den medial überhitzten Debatten unserer Tage, in denen jede Äußerung minuten- oder besser sekundengenau kommentiert und mit einer möglichst pointiert und eindeutig formulierten Antwort versehen werden will, um die erregungsgeleiteten Algorithmen der sogenannten „sozialen“ Medien zu füttern, wirkt die abwägend-langsame Haltung des Zweifelns wie aus der Zeit gefallen. Schnelle und klare Entscheidungen lassen nicht nur Politikerinnen und Politiker authentisch, entscheidungs- und führungsstark erscheinen, auch jeder und jede einzelne ist ständig aufgefordert, sich selbst (möglichst eindeutig) zu positionieren.

Auch im Bereich von Glaube, Religion und Kirche hat der Zweifel es nicht immer so ganz leicht. Dem Zweifel haftet das Odeur des Unglaubens an. Solcher Unglaube musste in einer zunehmend als nicht mehr christlich dominiert wahrgenommenen Gesellschaft möglichst entschieden und zweifelsfrei abgewehrt werden, solange man meint(e) um einer überzeitlichen Wahrheit willen in Opposition zum Zeitgeist und in den (konstruierten) Erinnerungen eines glanzvollen Gestern verharren zu müssen. Zwar sind diese Zeiten (hoffentlich) vorbei, trotzdem scheint es heute geradezu eine Sehnsucht danach zu geben, aus der Schwebe des Zweifels in eine einfache Eindeutigkeit (zurück) zu kommen.

Der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat Grundlinien dieser Tendenz der Vereindeutigung in einem seinerzeit vielbeachteten Essay mit dem Titel „Die Vereindeutigung der Welt“ (2018) dargestellt, die auch heute unverändert gültig sind. Bauer konstatiert darin eine (gesellschaftliche) Tendenz, die als bedrohlich empfundene Vielfalt zu vernichten, ganz im Gegensatz zur eigentlichen Uneindeutigkeit – Ambiguität – der Welt. Diese Ambiguität im Sinne einer legitimen und begrenzten Bedeutungspluralität kann für Bauer nie vollstänig vermieden, sondern nur auf ein lebbares Maß reduziert werden. Was Bauer mit dem (aus der romanischen Sprachfamilie stammenden) Begriff der Ambiguität (lat. ambiguus = zweideutig) bezeichnet, hängt eng mit dem aus der germanischen Sprachfamilie stammenden Zweifel zusammen. Auch der Zweifler ist ja jemand, der oder die es sich mit der Welt nicht einfach macht, sondern die Wirklichkeit mindestens zweifach – aus unterschiedlichen Blickwinkeln oder Perspektiven – anzuschauen versucht. Etymologisch stammt das Wort „Zweifel“ wohl vom althochdeutschen „zwifal“ („Zweifalt“) und für die christliche Religion, die gar von einer Dreifaltigkeit Gottes spricht, scheinen Zweifel dann geradezu notwendig, als ein erster Schritt darauf hin, die Dreifaltigkeit Gottes als Grunddogma und -paradoxie des Christentums zu erschließen.1

Vor etwa 50 Jahren hat ein Heiliger im offiziellen Kalender der katholischen Kirche eine Wanderschaft vom Tag mit der längsten Nacht des Jahres (dem 21. Dezember) auf sein heutiges Festdatum mitten im Sommer (am 3. Juli) gemacht: die Rede ist vom Apostel Thomas, dem Zweifler. Und vielleicht ist es gerade die mitunter etwas ruhigere Sommerzeit, die es erlaubt, dem Zweifel Raum zu geben, ihm wieder auf die Spur zu kommen und vielleicht Geschmack zu finden an ein bisschen Zweifel...

Thomas

Die Erzählung vom Zweifler Thomas aus dem 20. Kapitel des Johannesevangeliums gehört wohl zu den bekanntesten Geschichten des Neuen Testaments. Der genaue Blick auf Thomas – den Ungläubige, wie er Jahrhunderte lang bezeichnet wurde – kann in Bezug auf die Frage des Zueinanders von Glaube und Zweifel einiges Erhellendes beitragen, wenn man versucht, sich diese Geschichte möglichst unvoreingenommen zu vergegenwärtigen.

Zuerst wird die Begegnung des auferstandenen Jesus mit den versammelten Jüngern geschildert. Der Auferstandene kommt in ihre Mitte, spricht ihnen (als erstes Wort des Auferstandenen überhaupt) den Frieden zu – auch in unserer weltpolitischen Situation eine entscheidende Beobachtung. Entscheidend ist, dass es sich hier um eine kollektive Glaubenserfahrung der Jünger handelt (Joh 20,19-23). In der johanneischen Fassung der Lebens- und Wirkungsgeschichte Jesu sind hier die Auferstehungs- und die Pfingsterfahrung (anders etwa als im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte) miteinander verbunden: die Jünger erleben in Gemeinschaft und in unmittelbarem Zusammenhang Auferstehung und Geistbeauftragung.

Thomas ist bei diesem Treffen nicht zugegen. Er kann die gemeinschaftliche Begegnungserfahrung (zunächst) nicht direkt teilen, sondern begegnet dem gemeinschaftlichen Glaubenszeugnis der Jünger:innen von der Begegnung mit dem Auferstandenen – „wir haben den Herrn gesehen“ (V. 25) – und setzt sich dann persönlich und individuell damit auseinander – „wenn ich nicht … sehe …, glaube ich nicht.“ (V. 25). Hier liegt der entscheidende Punkt, um zu verstehen, dass Zweifel immer ein existenzielles Geschehen und nie bloß ein abstraktes Gedankenspiel ist. Während die Erzählung vorher nur kollektiv und undifferenziert von den Jüngern spricht, geht es jetzt um einen konkreten (oder aber archetypischen) Jünger: Thomas. Die Geschichte vom Glauben und Zweifeln des Thomas spielt also mit anderen Worten am Übergang vom kollektiven zum individuellen Glauben, dort wo nicht mehr (nur) die Erfahrung einer (gelingenden) Gemeinschaft gemacht, sondern der Glaube selbst zur Frage und Anfrage an mich wird. Dort ereignet sich anscheinend (notwendigerweise) Zweifel und vielleicht darf man eine Parallele zur Corona-Situation erblicken: wo auf einmal gewohnte Gemeinschaft nicht mehr möglich war, wird Glaube, Leben und Sinn zur Anfrage an jede:n Einzelne:n. Bei Thomas wird dieser Charakter der Anfrage in einer Zweistufigkeit verdeutlicht: Im Zusammenhang seiner Verstehenwollens geht es zunächst ums „Sehen“ und dann ums „Berühren“ (V. 25), um den Wunsch nach einem (gelingenden) Erkenntnisprozess.

Eine Woche später ereignet sich dann die aktualisierende Wiederholung der Ur-Erfahrung der Jünger. Wieder ist der zweite Durchgang gleich gestaltet, wieder steht am Anfang das „Friede sei mit Euch“ (V. 26), dann aber geht es ans Eingemachte: Die Antwort Jesu (V. 27) geht unmittelbar an Thomas: er bietet Thomas direkt und ausschließlich die zweite Stufe des Verstehens, das Begreifen und Berühren an und belässt ihn (anders als Jünger im ersten Durchgang?) nicht nur beim Sehen. Das geschieht aus der freien Initiative Jesu heraus, ohne dass Thomas ihn bitten müsste.

Und auf die Initiave Jesu folgt die Antwort des Thomas, sein individuelles Glaubensbekenntnis (V. 28) in sieben einfachen Worten (so im griechischen Urtext): „Mein Herr und mein Gott!“ Auch wenn es im Text offen bliebt, ob Thomas den Auferstandenen Jesus und seine Wunden nun wirklich (körperlich) berührt, so ist er von der (persönlichen) Begegnung mit ihm so berührt, dass er seinen Zweifel überwinden kann, ohne dass die zweifelnde Grundhaltung des Thomas auch nur in irgendeiner Weise getadelt oder von Jesus als unangemessen zurückgewiesen und sanktioniert worden wäre. Wohl aber drängt die berührende Erfahrung der Begegnung mit Jesus offensichtlich zu einer Entscheidung.

Diese Entscheidung muss man im Blick den griechischen Urtext aber wohl anders verstehen als es die deutsche Übersetzung „Sei nicht ungläubig, sondern gläubig“ (V. 28) nahelegt. Es geht dabei nicht darum, dass Thomas sich als Zweifelnder im Zustand des Unglaubens befunden hätte. Eigentlich müsste man den Imperativ Jesu übersetzen mit: „werde nicht ungläubig, sondern werde gläubig“. Das im Griechischen dahinter stehende Verb „ginomai“ meint ganz grundsätzlich nicht einen Seinszustand selbst, sondern die Veränderung eines Seinszustands (vgl. Wolfgang Hackenberg, „γίνομαι“, in: Horst Balz und Gerhard Schneider, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 2011, 594.). Sowohl das Gläubigsein wie auch das Ungläubigsein haben vom Zweifelnden gewissermaßen den gleichen Abstand. Zentral ist es also, dass Thomas seine eigenverantwortliche Glaubensentscheidung trifft.2

Und auch der Schlusssatz „Weil du mich gesehen hast, glaubst du; selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (V. 29) lässt sich kaum ausschließlich als Tadel des Thomas verstehen, verbindet das „Sehen“ als Zugang zum Auferstandenen (anders als das durchaus paradoxe Berührenwollen von Jesus, das vom Berührtwerden durch Jesus überholt wird) den Zweifler Thomas ja gerade mit den anderen Jünger:innen („wir haben den Herrn gesehen“, V. 25). Vielmehr hebt der Satz hervor, dass es nicht nur den „elitären“ Weg der visuellen Begegnung mit dem Auferstandenen, der zum Glauben führt, sondern eine Vielzahl anderer Wege gibt, die aber nicht weniger individuelle und existenzielle Glaubenswege sind. Überhaupt scheint in der Thomas-Erzählung Glaube nicht auf ein Für-Wahr-Halten von Botschaften und Sätzen, die nicht angezweifelt werden dürfen, reduziert zu werden, sondern der Zweifel steht am Beginn und an den vielen Abzweigungs- und Kreuzungspunkte eines Glaubenswegs. Im berühmten Zitat von Martin Luther könnte man sagen: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden … Wir sind's noch nicht, wir werden's aber… Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg.“

Und vielleicht liegt schon im Namen des Apostels Thomas ein Schlüssel für das, was gemeint ist. „Thomas“ stammt vom hebräischen (bzw. auch aramäischen) tāʼam mit der Grundbedeutung „doppelt sein“ bzw. „Zwilling“. In diesem Sinne überträgt und erklärt das Neue Testament die Bedeutung des Eigennamens Thomas für die griechischsprachige Leserschaft mit dem griechischen Wort „Didymos“ (= Zwilling). Die kirchliche Tradition und Auslegung der Thomas-Geschichte fragt sich deshalb dann auch, wessen Zwilling dieser Thomas wohl ist, vereinzelt wird er selbst sogar als Zwilling Jesu verstanden. Vielleicht wird man in einem übertragenen Sinn sagen können: Glauben und Zweifel sind Zwillinge, der eine kann nicht ohne den anderen.

1 Vgl. zu diesem Zusammenhang von Paradoxie und Zweifel den lesenswerten Essay von Angelika Kellhammer: „Warum das Zweifeln besser ist als sein Ruf“ (vom 21.04.2022),
Quelle: www.br.de/kultur/gesellschaft/lob-des-zweifels-100.html

2 Darauf verweist auch das griechische Verb, das für die Antwort des Thomas verwendet wird: Etymologisch geht apokrinomai („antworten, erwidern, anheben [oder fortfahren] zu sprechen“) auf die Wurzel krino („werten, unterscheiden“) zurück. Betont wird damit also das „Moment des besonnenen Aussuchens und Urteilens“, eine eigenverantwortliche Entscheidung (vgl. dazu Armin Kretzer, „ἀποκρίνομαι“, in: Horst Balz und Gerhard Schneider, Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 2011, 319–320).

Alexander Jaklitsch

Bild: Yohanes Vianey Lein | pfarrbriefservice.de

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